Tag 3 - 13. Juni
Am dritten Tag führt uns unsere Wanderung durch eine Vielzahl beeindruckender Orte. Mit Nico an der Spitze schlendern wir durch enge Gassen, an denen geheimnisvolle Türen und hohe Steingebäude aus französischer Kolonialzeit grenzen. Es ist zwar noch früh, doch die Stadt erwachte schon längst zum Leben, und die Geräusche der allgegenwärtigen Mopeds vermischen sich wieder zu einem hupenden Symphonieorchester.
Bambus
Ich bin überwältigt. Ich stehe auf der Straße Phố Hàng Vải, umgeben von einem Meer aus Bambusprodukten. Bambusleitern lehnen an den Wänden, Angelruten ragen über die Stände hinaus, und Bambuspfeifen und Haken liegen scheinbar unsortiert herum. Jeder verfügbare Raum ist genutzt, um die Vielfalt der handgemachten Bambuswaren zu präsentieren. Ich richte meine Kamera mal hierhin, mal dorthin, ohne richtig Halt zu finden. Ich versuche, das Chaos mit meiner Kamera einzufangen, aber ich fühle mich wie ein neuer Schüler, der versucht, die erste Lektion zu verstehen. Neben mir steht Vincent, er ist tief in seine eigene fotografische Welt versunken, er fängt jede Facette des Lebens hier mit seiner Kamera ein, bevor er seine eigenen Wege geht und, wie wir später erfahren werden, eine sehr persönliche Fotostory zusammenstellt.
Die Straße unter der Brücke
Wir gehen weiter zu einer engen Straße, der Phố Gầm Cầu, am Fuße einer mächtigen Brücke, die wir nachher auch noch sehen werden. Diese Straße hat überhaupt keine Gehwege, und einige Abschnitte der Straße sind nur 1,5 m breit. Der Mangel an Fahrzeugverkehr lässt aber dennoch kaum Raum für die Vielzahl von Ständen und Verkaufswagen. Der Duft von gegrilltem Rindfleisch und reichhaltiger Butter füllt die Luft, und ich halte einen Moment inne, um diesen Moment einzufangen. Nico gibt mir den Tipp, meine Kamera auf eine niedrigere Perspektive zu stellen, um die Dynamik der Straßenverkäufer besser einzufangen.
Noch fällt es mir schwer, Personen von vorne zu fotografieren. In Europa, insbesondere in Deutschland, bin ich oft auf Ablehnung, sogar Verurteilung gestoßen, wenn ich versucht habe, Alltagsszenen einzufangen, wobei halt gelegentlich auch Menschen in den Fokus geraten. Die sich daraus ergebenden Debatten über das Recht am eigenen Bild, manchmal auch einfach blanke Aggression, mindern meinen Enthusiasmus. Nun, in einem fremden Land, dessen Gesetze und Sprache mir fremd sind, möchte ich nicht Gefahr laufen, mich solchen Konflikten auszusetzen. Daher mache ich in diesem Tag immer noch viele Fotos von hinten.
Ga Long Biên
Als wir den kleinen Bahnhof Ga Long Biên erreichen, bin ich überrascht von der Stille. Im Gegensatz zu dem quirligen Straßenleben, das ich bisher gesehen habe, ist der Bahnhof ein Ort der Ruhe. Nur ein bis zweimal am Tag, so scheint es, hält hier ein Zug. Das Gleisbett liegt still und verlassen vor uns.
Mit unseren Kameras versuchen wir, den kargen Charme der verlassenen Gleise einzufangen. Doch bevor wir damit beginnen können, werden wir von uniformierten Beamten weg gescheucht. Ihr strenger Blick und ihre bestimmten Gesten lassen keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen. Die Uniformierten wedelten mit ihren Armen, und rufen noch etwas hinterher, als wir uns hinaus scheuchen lassen.
Die Brücke über den Roten Fluss
Die Cầu Long Biên Brücke ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Sie wurde von 1899 bis 1902 erbaut. Sie erstreckt sich über den Roten Fluss und verbindet Long Biên, den einzigen Bezirk am Ostufer des Flusses, mit den Bezirken im Zentrum der historischen Hanois. Ein Strom von Mopeds zischt über die Straße. Ich versuche, den Moment einzufangen – das Dröhnen der Motoren, den quirligen Verkehr und die vereinzelten Fußgänger, die anstatt den Gehweg zu benutzen, vorsichtig auf den Eisenbahnschienen laufen.
Wegen ihrer strategischen Bedeutung war die Brücke im Vietnamkrieg stark umkämpft. Die eisernen Streben der Brücke sind mit einer Patina aus Rost überzogen. Sie ist ein stilles Zeugnis des letzten Jahrhunderts, von der Kolonialzeit über den Vietnamkrieg bis hin zur Gegenwart.
Beim Stadttor
Das alte Stadttor Ô Quan Chưởng ist unser letzter Halt. Es ist eines der alten Stadttore im Osten der Stadtmauer, die die Kaiserstadt Thăng Long umgab. Es wurde während der Cảnh Hưng-Ära (1749) erbaut. Das Land außerhalb des Stadttors galt früher als Vorort. Das beeindruckende Dreifachtor und die steinerne Tafel mit dem Verbot für Wachen, die Bürger zu belästigen, sprechen von einer vergangenen Ära. Leider lässt es sich nur schwer mit der Kamera einfangen, es ist von modernen Gebäuden und Straßen umgeben, die es von seiner historischen Kontextualität trennen.
Train Street
Am frühen Abend gehe ich noch alleine zu der auch bei Touristen beliebten Eisenbahnstraße. Sie ist ein faszinierender Ort. In dieser schmalen Gasse, eingeklemmt zwischen dicht aneinander gereihten Häusern, rumpeln die Züge nur wenige Zentimeter an den Fassaden der Gebäude entlang. Leider fällt heute Abend der Zug aus, Bauarbeiter sind gerade damit beschäftigt, das Gleisbett zu reparieren. Lediglich ein paar Touristen sind anwesend.