Tag 2 - 12. Juni

Nach einer schwülen Nacht und einer erfrischenden Dusche gibt es erst mal kein Frühstück. Es scheint, als hätte das Hotel nicht nur Probleme mit der Klimaanlage oder dem streikenden Fahrstuhl, sondern auch mit der Küche. Glücklicherweise befindet sich direkt gegenüber ein Ort, der köstlichen traditionellen vietnamesischen Kaffee anbietet.

Vietnam

Ornament

Bevor wir unsere Reise antraten, nutzte ich die Gelegenheit, einige YouTube-Videos anzuschauen, um zumindest die fünf wichtigsten Ausdrücke zu lernen, die man auf jeder Reise benötigt: “Ja”, “Nein”, “Bitte”, “Danke” und “Seid gegrüßt, wir kommen in Frieden”, oder etwas in dieser Art. Vietnamesisch ist so grundverschieden von allem Bekannten, dass lediglich das “cảm ơn” für “Danke” in meinem Gedächtnis haften blieb.

Ein weiteres Video, das erläuterte, wie man sicher eine Straße in Vietnam überquert, erwies sich im Nachhinein als wesentlich relevanter. Die Straßen von Hanoi werden zwar von Autos und gelegentlich Lastwagen befahren, doch der Großteil des Verkehrs besteht aus Mopeds - viele davon so alt, dass sie noch aus der Zeit der Sowjetunion stammen.

Es ist ein stetes, gleichmäßiges Rauschen, das vor allem am Kreisverkehr vor unserem Hotel aus allen Richtungen zu uns herüber schallt und ebenso in alle Richtungen verhallt. Auf dem großen Platz durchdringen sich die Fahrzeugströme ungehindert, als wären jedes Moped ein elektrisch geladenes Partikel, das durch Abstoßungskräfte Kollisionen verhindert.

Die Hupe ist hierbei das wichtigste Kommunikationsmittel. Je lauter eine Hupe erklingt, desto näher ist das entsprechende Fahrzeug. Mopeds erzeugen ein hohes, kurzes, aber knarzendes Geräusch, Autos hingegen die uns vertrauten Töne. Wenn jedoch ein tiefes, lang anhaltendes Müüöööooop ertönt, ist es ratsam, abzuwarten, bis der entsprechende Lastwagen vorbeigefahren ist, bevor man die Straße überquert.

Trotzdem, einmal auf die Straße getreten, sollte man gemächlich und mit gleichbleibender Geschwindigkeit hindurchgehen, während sich die “elektrisch geladenen” Moped-Partikel um einen herum bewegen. In diesem Moment wird mir bewusst: Vielleicht überlebe ich dieses Abenteuer tatsächlich.

Firmungszeremonie, St. Joseph Kathedrale

Nhà Thờ Lớn Hanoi
St. Joseph Kathedrale

An diesem Sonntag strömen viele festlich gekleidete Familien zur Kirche. Ganze Generationen scheinen vertreten zu sein: Eltern, Onkel, Tanten, Großeltern und Enkelkinder. Mitten im Geschehen sind wir, eine Gruppe europäischer Fotografen. Ich halte meine Kamera hoch, zentriere den Fokus auf eine Familie, die gerade die Kirche betritt. Ihr Outfit ist farbenfroh, ein prächtiges Spektrum von Farben. Wiederum andere sind zu meinem Erstaunen sogar erfreut, als sie mich bemerken und winken mir zu, bevor sie für ein Foto posieren. Ihre Freude, im Bild eingefangen zu werden, ist ansteckend.

Nicolas gibt mir später noch Ratschläge. “Such nach den Geschichten, nicht nur den Bildern”, sagt er mit ernstem Blick.

“Hanoi Hilton” Gefängnis

Di tích Nhà tù Hỏa Lò
Prison 'Hanoi Hilton'

Die nächste Station auf unserer Reise durch Hanoi ist das Hỏa-Lò-Gefängnis (Hỏa Lò: “glühender Ofen”), das ironisch “Hanoi Hilton” genannt wird - eine dunkle Erinnerung an die schwierige Geschichte zwischen Vietnam und den USA. Die beklemmende Atmosphäre dieses Ortes lässt mich erschaudern, während wir das Gelände betreten.

Das Gefängnis wurde ursprünglich in den späten 1800er Jahren von den Franzosen erbaut, um vietnamesische Unabhängigkeitskämpfer einzusperren und zu foltern. Im Laufe der Jahrzehnte wurde es zu einem Ort der Haft für US-Kriegsgefangene während des Vietnamkriegs.

Im Inneren des Gefängnisses sehen wir eine Vielzahl von Exponaten, die die unvorstellbaren Bedingungen und Grausamkeiten darstellen, die die Gefangenen ertragen mussten. Eine Ausstellung, die mir besonders in Erinnerung bleibt, ist eine erschreckende Guillotine, ein klares Symbol für die brutale französische Kolonialherrschaft.

Eine andere Ausstellung zeigt winzige Gefängniszellen, in denen die Gefangenen eingepfercht waren. Es ist schwer vorstellbar, wie viele Menschen in diesen engen Räumen waren, an einem Fuß gefesselt, ohne Möglichkeiten, sich zu bewegen und kaum genug Platz zum Atmen.

Trotz der schweren Atmosphäre, die das “Hanoi Hilton” durchdringt, bemerken wir eine bemerkenswerte Veränderung in der Darstellung der amerikanischen Kriegsgefangenen. Statt ausschließlich als Feinde dargestellt zu werden, werden sie in den neueren Ausstellungen eher als Opfer des Krieges gesehen, was die sich wandelnde Einstellung der Vietnamesen gegenüber den Amerikanern widerspiegelt.

Gerade wegen seiner dunklen Vergangenheit dient dieses Gefängnis heute als Symbol für die Widerstandsfähigkeit und das Durchhaltevermögen des vietnamesischen Volkes. Und es ist eine wichtige Erinnerung daran, dass Frieden und Verständigung weitaus mehr wert sind als jede Konfrontation oder Auseinandersetzung.

Die Auswahl der Bilder

Es ist Abend in Hanoi. Die Luft ist erfüllt von dem sinnlichen Duft der Pho-Suppenstände und der rauchigen Süße der Straßengrills. Ich bin etwas aufgeregt, als ich zum ersten Mail in dieser Gruppe meine ausgewählten zehn Fotos präsentiere. Die digitalen Bilder auf dem Bildschirm strahlen eine Schärfe und Lebendigkeit aus, die die Farbenpracht Hanois widerspiegeln. Es sind Momente, die ich eingefangen habe, alltägliche Szenen, die sich in dem geschäftigen Stadtviertel abspielen.

Nicolas betrachtet meine Fotos mit einem unergründlichen Ausdruck. Ich kann nicht sagen, ob er beeindruckt oder enttäuscht ist. Dann bricht er das Schweigen. “Warum zeigst du uns diese banalen Bilder?” Er sagt es durchaus kritisch, seine Worte hallen in meinem Kopf wider. Was für mich neu und exotisch ist, ist für ihn, der jahrelang hier gelebt und gearbeitet hat, alltäglich.

Die anderen Mitglieder unserer Gruppe präsentieren nacheinander ihre Arbeiten. Jedes dieser Bilder ist einzigartig, jedes erzählt eine eigene Geschichte. Ich fühle mich ein wenig demoralisiert. Meine Bilder scheinen im Vergleich dazu einfach. Es ist, als hätte ich nur die Oberfläche von Hanoi gekratzt, während die anderen bis in die Tiefe eingedrungen sind.

Nicolas gibt mir keine konkreten Ratschläge, wie ich meine Fotografie verbessern könnte. Stattdessen fordert er mich heraus, am nächsten Tag etwas Eindrucksvolles einzufangen. Etwas, das die Essenz von Hanoi wirklich zeigt. Etwas, das über die Klischees und die gewohnten Bilder hinausgeht. Als ich diese Worte höre, spüre ich eine Mischung aus Entmutigung und Herausforderung. Aber ich nehme sie an. Ich werde meinen Blick schärfen, werde tiefer in das Herz dieser faszinierenden Stadt blicken und versuchen, ihre Seele einzufangen.

Diese Nacht, als ich durch die beleuchteten Straßen von Hanoi schlendere, versuche ich, die Stadt mit neuen Augen zu sehen. Ich betrachte die Menschen, die Gebäude, das Treiben auf den Straßen. Ich weiß, dass ich eine andere Perspektive finden muss. Und mit dieser Erkenntnis bin ich hoffentlich bereit für den kommenden Tag.