Tag 1 - 11. Juni

Nico

Ich begegnete Nico zum ersten Mal im Fahrstuhl unseres Hotels. Auf den ersten Blick strafte er meine gängigen Vorstellungen von einem Fotografen Lügen, den ich mir mit einer oder zwei Kameras um den Hals, in einer Lederweste und einem Gürtel voller essenziellem Equipment vorstellte. Alles, was er bei sich hatte, war ein unaufgeregter, hellblauer Stoffbeutel.

Seine Einfachheit und Bescheidenheit passte überraschend gut in das Bild Vietnams, das ich in den letzten zwei Stunden seit unserer Landung auf dem Flughafen in meinem Kopf geformt hatte: ein Land, das nicht unbedingt für seine Haute Couture bekannt ist.

Die Straßen waren gesäumt von Gerümpelhaufen, zwischen denen Menschen hockten oder in etwas wühlten, und Soldaten in ausgeblichenen, hellgrünen Uniformen, auf denen der gelbe Stern auf rotem Grund prangte, das Staatssymbol dieses sozialistischen Landes. Der Straßenverkehr folgte offenbar keinen Regeln, denn unser Fahrer schien weder rote Ampeln noch Verkehrsschilder oder kreuz und quer fahrende Fahrzeuge zu beachten. Viele Menschen gingen zu Fuß, verschiedene Dinge schleppend, von Baumaterialien bis hin zu Lebensmitteln. Wir bogen irgendwann von der Hauptstraße ab, in eine viel belebtere Gegend, offensichtlich ein heruntergekommener Vorort, weit entfernt von der Stadt Hanoi. Die Straße war in schlechtem Zustand, mit jedem Schlagloch wurden wir durchgeschüttelt, die Häuser glichen teilweise Ruinen, aber überall waren Menschen. Hin und wieder kamen wir an kleinen Häuschen vorbei, in denen ein Uniformierter stand, unser Auto mit ausdruckslosem Blick ansah und uns, den Blickkontakt haltend, verfolgte, während wir langsam an ihm vorbeifuhren. Bilder aus der DDR oder Nordkorea kamen mir in den Sinn. All das zusammen war jetzt doch zu viel; es war wohl der Moment, in dem ich etwas theatralisch dachte, hier komme ich nicht mehr lebend raus. Unser Auto fuhr dann gegen die Fahrtrichtung in einen Kreisverkehr, wendete, stellte sich rückwärts seitlich neben andere geparkte Fahrzeuge, und plötzlich waren wir am Hotel angekommen. Hier? Das kann doch nicht Euer Ernst sein.

Nicolas Pascarel

Der Mann im Aufzug und ich grüßten uns kurz mit einem verhaltenen “Hi” und fuhren schweigend in die Lobby. Er kramte nach einer Zigarette und verschwand Richtung Straße. In der Lobby wartete bereits ein anderer Kollege, der ebenfalls an diesem Fotoworkshop teilnehmen wollte. Ungefähr eine Zigarettenlänge später kam unsere Organisatorin, Heba, hinzu, im Schlepptau den Mann aus dem Fahrstuhl. Unser zweites “Hi” fiel jetzt schon wesentlich freundlicher aus, wenn ich sein verschmitztes Grinsen richtig interpretierte.

Zu diesem Zeitpunkt muss er mich schon komplett analysiert haben, meine moderne Digitalkamera mit dem unverhältnismäßig großen Zoomobjektiv, meine so mitteleuropäische Kleidung, die ich, nachdem wir das kühlschrankkalte, klimatisierte Hotel verlassen haben würden, nach wenigen Metern in Richtung unserer ersten Foto-Location komplett durchgeschwitzt haben würde, meine Unfähigkeit, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten und deshalb wild mit der Kamera fuchtelnd Touristenfotos in komischen schiefen Perspektiven zu machen, hierhin zoomend, dorthin zoomend. Sein Grinsen schien all dies bereits vorweggenommen zu haben.

Meine Ausrüstung

Kamera
Sony FE 24 - 240mm / 3,5 - 6,3 OSS

Rückblick, ein paar Jahre zuvor: „Ich möchte eine Canon EOS 5 kaufen.“ „Warum?“ Der Bruder eines Freundes führte mich in seinem Fotogeschäft zu einem Schaukasten mit mehreren Kameras und noch viel mehr Zubehör; er wollte kein schnelles Geld machen, er wollte mich beraten, gut beraten. Nachdem wir uns gut eine Stunde über meine Absichten, im bevorstehenden Urlaub Fotos zu machen, unterhalten hatten, ging ich ohne Kamera aber mit zwei Prospekten von Sony und Olympus nach Hause. Damals planten wir eine Autoreise von San Francisco über Los Angeles, Palm Springs, den Grand Canyon und andere weniger grandiose Canyons bis nach Las Vegas. Auf der Strecke wollten wir nicht zu viele Abstecher von der Hauptstraße zu jedem netten Felsen, Kaktus oder Baum machen, ein leistungsstarkes Zoomobjektiv sollte das Ferne nahebringen. Wenn die Kamera nur genügend Pixel hat, kann man das immer noch bildschirmfüllend und mit ansehnlicher Qualität ausschneiden. Das dachte ich zumindest. Also nach einigen Tagen Bedenkzeit lieferte mir dieser Freund meine erste Kamera mit austauschbarem Objektiv, eine Sony Alpha7R, mit sagenhaften 7Kx5K Pixeln.

“Wir könnten Dein Objektiv auch einfach festkleben!”, schlug Heba vor. Die Essenz der Straßenfotografie besteht darin, das alltägliche Leben der Menschen in ihrem natürlichen Kontext zu erfassen - nicht heimlich aus der Entfernung, sondern ganz nah dran. So nah, dass die fotografierten Personen definitiv bemerken, dass sie im Fokus stehen, jedoch immer noch in einer respektvollen Distanz. Das ermöglicht es, den gesamten Kontext, in dem sie sich bewegen, in das Bild einzubeziehen. Eine feste 25er oder 35er Linse wäre dafür ideal.

Allerdings hatte ich aus Sorge, zu viel Gepäck mitzunehmen und aus Angst vor möglichen Diebstählen nur dieses eine Zoomobjektiv eingepackt. Sicher, es kann auch auf 25 oder 35 eingestellt werden, aber dann fand ich mich doch immer wieder dabei, irgendwelche Dinge in der Ferne abzulichten, um sie der Familie zu Hause zu zeigen.

Nico beobachtete mich dabei, ohne dass ich es bemerkte, und bildete seine eigene Meinung dazu. Letztendlich mussten wir das Klebeband, mit dem wir das Objektiv hätten fixieren können, nicht verwenden. Irgendwann fügte ich mich einfach der Philosophie der Straßenfotografie und fotografierte größtenteils in der Nähe meiner Motive.

Der erste Abend

Unser erster Spaziergang durch die Stadt führte uns vorbei an Gebäuden, deren beste Tage eindeutig schon länger zurückliegen. Die verblichenen Senfgelb-Töne der einst französisch-kolonialen Fassaden waren von immergrünen Rankpflanzen überwuchert. Wir schlängelten uns durch schmale Gassen, vorbei an dunklen Hinterhöfen zwischen Häusern, in denen kein Licht, keine Laterne zu finden war. Lediglich der schwache Schimmer, der aus den Fenstern der Hinterhöfe drang, ermöglichte es, irgendeine Form von Silhouetten zu erkennen.

“Diese Art von Altar ist ziemlich typisch für Vietnam”, kommentierte Nico, dessen Augen sich schnell an die Dunkelheit angepasst hatten. Unser Weg führte uns weiter zu einem Platz, an dem sich eine Kirche befand, die wie eine kleinere Beton-Nachbildung der Notre Dame aussah.

Nicolas Pascarel

Vor uns saßen verschiedene Gruppen auf kleinen Plastikhockern - ein ungewöhnlicher Anblick, bis Nico sich einen solchen Hocker schnappte, ihn von einem Stapel herunterzog und sich damit mitten auf den Weg vor einer der Gruppen positionierte. Wir folgten seinem Beispiel. Eine Dame brachte uns Bier und einen Teller voller Samen, die wir mit einem Hauch von Skepsis öffneten. So wurde uns klar, dass dieser Ort wohl eine Art von Kneipe darstellte.

Öffentlicher Platz am See

(Quảng trường Đông Kinh Nghĩa Thục)

Es ist Wochenende und die Straßen rund um den See sind für den Verkehr abgesperrt. An jeder Absperrung sitzen zwei uniformierte Wachen im Dunkeln, während das pulsierende Leben der Stadt um sie herum seinen Lauf nimmt. Unsere Aufgabe ist es, die Atmosphäre einzufangen, doch ich wage nur, Fotos von Gebäuden oder der Beleuchtung zu machen. Auf keinen Fall wage ich es, die Uniformierten zu fotografieren. Die Menschen hier sind mir zu unbekannt, und mit meiner mitteleuropäischen Größe von über 1,8 Metern bin ich hier ein deutlich sichtbarer Außenseiter. Gegen 22 Uhr endet das bunte Treiben, die Gehwege werden leergefegt und wir machen uns auf den Rückweg zum Hotel. So endet meine erste Nacht auf asiatischem Boden.